HIOBS VERSTUMMEN
Die Erzählung von Hiob gehört zu den großen Dichtungen der Menschheit. Sie findet sich unter den Schriften des Tanach, der hebräischen Bibel bzw. den Büchern des Alten Testaments. Das Buch Hiob ist zugleich äußerst umstritten, ja skandalös. Das liegt an seiner unklaren Textgeschichte, die mehrere Autoren und Jahrhunderte umfasst, an seinem Thema, der Ungerechtigkeit Gottes, und seinem Helden, der sich gegen die Souveränität des himmlischen Vaters und das Leid der menschlichen Existenz auflehnt. Ausgangspunkt ist die folgende Frage: Verdient der Mensch sein Glück, weil er gottergeben ist oder ist es das Glück, das ihn gottergeben macht?
Auf der Suche nach einer Antwort vereinbaren Gott und der Satan einen Pakt, der Hiob doppelt auf die Probe stellt und ins Unglück stürzt. Zuerst wird ihm sein gesamtes Hab und Gut genommen: sein Haus, sein Vieh, seine Knechte, seine Kinder. Nur das nackte Leben soll Hiob bleiben. Aber was für ein Leben ist das? Lohnt es noch zu leben, wenn einem alles genommen worden ist? Hiob widersteht der ersten Versuchung. Er bleibt standhaft, weil er sein Glück nur als das Glück versteht, das Gott ihm zugewiesen hat. „Da stand Hiob auf und zerriss sein Kleid und schor sein Haupt und fiel auf die Erde und neigte sich tief und sprach: Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren. Der Herr hats gegeben, der Herr hats genommen; der Name des Herrn sei gelobt!“ (Hiob, 1, 20-21) Darauf wird Hiob einer zweiten Probe unterzogen, dieses Mal „Haut für Haut“. (2, 4) Krank und von Schmerzen geplagt sinkt er vor Gott nieder. Aber wieder bleibt Hiob seinem Herrn treu. „Haben wir Gutes empfangen von Gott und sollten das Böse nicht auch annehmen? In diesem allen versündigte sich Hiob nicht mit seinen Lippen.“ (2, 10)
Eine dritte und alles entscheidende Probe fällt aus. Wie hätte sie aussehen können? Hätte sie Gott dazu gebracht, seine wahren Motive preis zu geben? Hätte sie Hiob verraten, dass sein Glück und sein Unglück nichts mit dem Glauben an Gott zu tun hat, sondern allein auf ein verteufeltes Fragespiel zurückgeht? Die Antworten bleiben aus. „Ich rufe. Und werde doch nicht gehört.“ (19, 7, Text bearbeitet nach dem Libretto von Hiobs Verstummen) Hiob braucht sich darum nicht zu einem Gott bekennen, der es nicht verdient. Diese Prüfung wird ihm erspart. Stattdessen treten im Buch Hiob nicht weniger als vier Freunde an, um den gemarterten Menschen von der Notwendigkeit seiner Schuld zu überzeugen. Sein Leid soll der Beweis für die Gerechtigkeit Gottes sein. Aber Hiob widersteht auch dieser Versuchung, die das Unerklärliche nur verdeckt und zerredet hätte. In ausladenden Monologen setzt er sich zur Wehr und schöpft die ganze Macht der Sprache aus, um die Schrecken des Lebens zum Ausdruck zu bringen. Erst als Gott selbst seine Allmacht ins Feld führt, fügt Hiob sich. „Ich will meine Hand auf meinen Mund legen. Einmal habe ich geredet und will nicht mehr antworten, ein zweites Mal geredet und will’s nicht wieder tun.“ (40, 4-5)
Man kann Hiobs Verstummen als Geste der Demut und der Unterwerfung begreifen, befriedet durch einen Gott der Gnade, der ihn für sein Qualen mehr als entschädigt. So heißt es am Ende des Buches Hiob: „Und der Herr gab Hiob doppelt so viel, wie er gehabt hatte. […] Und Hiob starb alt und lebenssatt.“ (40, 10/17) Aber der überzogene Lohn sorgt für Unruhe. Schließlich wird Hiob vorenthalten, dass sein Leid (und das jedes Menschen) unverschuldet ist, dass es nichts mit seiner Leistung und seinem Charakter zu tun hat. Der Leser aber weiß es. Und er versteht: Hiobs Unglück ist nicht gerecht, die doppelte Kompensation ein Geständnis. Hiob hat sich nicht versündigt. Sein Leben wurde zum Pfand eines teuflischen Paktes, den Gott allein zu verantworten hat. Hiob wird nicht in Frage gestellt. Es ist Gott, der sich verrät.
Hiob bietet alle Kräfte auf, um der Sprachgewalt seiner Freunde und den Ansprüchen der göttlichen Ordnung zu widerstehen. Und es gibt wohl kaum einen Text, der das Leben und die Sprache derart radikal zur Disposition stellt wie das Buch Hiob. „Ich stehe auf in der Gemeinde und schreie.“ (30, 28) Hiobs Verstummen hat darum zwei Seiten: Einerseits ist es Ausdruck der Einsicht und der Resignation. Vor dem Wort Gottes ist jede Auflehnung vergebens. Andererseits ist dieses Verstummen Störung eines Geredes, das nie enden darf, Widerstand gegen einen Strom der Sprache, der nur bezeugt, was nicht gesagt werden darf: Gott ist nicht gerecht. „Wäre ich gerecht, so müsste mich doch mein Mund verdammen; wäre ich unschuldig, so würde er mich doch schuldig sprechen.“ (9, 20)
Die Geschichte von Hiob erzählt auch davon, wie aus der Unterlassung und der Profanierung heiliger Pflichten der Mensch zu sich selbst findet. Hiobs Verstummen führt zu einer Existenz, die das Getriebe der Welt unterbricht. Wie aber kommt es dazu? Wie kann man sich Hiobs Verstummen vorstellen, wie kann man ihm nachhorchen, wie kann man es hören oder sehen – und hat es eine eigene Schönheit? „Ausgelöscht sei der Tag, da man sprach. Dann läge ich da und wäre still, dann schliefe ich und hätte Ruh.“ (3, 3/13, Text bearbeitet)
Die Videoinstallation Hiobs Verstummen zeigt, wie dieses Verstummen vor sich geht – vom Aufgehen der Lippen bis zum Atem schöpfen, vom Sprachlaut bis zum Verschließen der Lippen. Sie fasst Hiobs Klage, die Antworten an die Freunde und den Disput mit Gott zu einem Monolog zusammen. In dessen Mittelpunkt steht der Aufruhr gegen das Unrecht, Hiobs Aufschrei und Schmerz. „Mich ekelt mein Leben“. (10/1) Das Brüllen, Flüstern und Flehen des geknechteten Menschen sind dabei Stimmen der Verzweiflung, des Aufbegehrens gegen die Zumutungen der Sprache, bis zur Umkehr ins Schweigen. „Ich lege die Hand auf den Mund; einmal habe ich geredet, ich tue es nicht wieder.“ (40, 4/5, Text bearbeitet)
In einem 93 Tage dauernden Prozess wird Hiobs Monolog gelöscht, Bild für Bild. Bis zur Stille, zum Nichts des weißen Bildes. „Ich hörte eine Stimme. Es war eine Stille. Eine Stille.“ (4, 16, Text bearbeitet) Stück für Stück zerfallen die Sätze und Bilder, die Worte und Gesten, zerfällt der Sprachlaut, zuckt das Gesicht. Zurück bleiben Silben und Buchstaben, An- und Schlusslaute, Ausdrücke und kurz aufscheinende Bilder. „Denn meine Tage sind nur noch ein Hauch.“ (7, 16)
Claas Morgenroth
Literatur:
Die Bibel, nach der Übersetzung Martin Luthers, mit Apokryphen, in der revidierten Fassung von 1984, herausgegeben von der Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 1999
Christoph Türcke, Umsonst leiden. Der Schlüssel zu Hiob, Springe: zu Klampen 2017
|